Eloge auf Block G-Nord.

In seinem Buch »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land« kommt der Autor Wolfgang Engler im zweiten Kapitel »Aufbau und Aufstand« – Wie die Ostdeutschen in neue Häuser und Städte zogen und über deren richtigen Gebrauch mit ihrer Führung stritten – auf die Stalinallee zu sprechen.

G-Nord (Postkarte)
G-Nord mit Springbrunnen, Architekt: Hanns Hopp; Postkarte: © BEBUG/Bild und Heimat, Berlin.

Seine Schilderung des nordöstlichen Teils der Magistrale, Block G-Nord von Hanns Hopp, den er seltsamerweise nicht namentlich erwähnt, ist eine poetische Eloge auf die Schönheit der Bauwerke:

[Hermann Henselmanns] aufwendige Architektur im Inneren und Äußeren, seine repräsentative Haltung, seine distinguierenden Ausdrucksgestalten und »Würdeformeln« machten Schule und die nach diesem Vorbild [i. e. »Hochhaus an der Weberwiese«] von 1952 bis 1956 errichtete Allee zu einer Sehenswürdigkeit.

Schon ihr Auftakt imponiert, ein Auftakt mit Aplomb. Noch ehe die Straße ihren ersten Höhepunkt erreicht, die beiden Türme am Frankfurter Tor, stellt sie in dem östlich davor gelegenen Abschnitt all ihre Potenzen selbstgenießerisch zur Schau. Die nördlicherseits verlaufende Häuserfront abbreviiert das Gesamtensemble besonders schwelgerisch. Da ist die ausgeklügelte Fassadengliederung des langgestreckten Blockes – der sich erst von der gegenüberliegenden Seite zum Triptychon formiert; das Doppelspiel seiner beiden Flügel, die über ihre das Mittelstück vorbereitende und betonende Funktion hinaus beschränkte Eigenwerbung treiben; ihre prächtigen, einander zitierenden Balustraden, Balkons, Veranden und Portale, die mitunter terrassenförmig in steinernen Vorgärten auslaufen; die Mitte selbst, kräftig nach oben aufschießend und in ihren obersten Partien stufenartig zurückflutend, so dass die abschließende Fensterfront der Kommandobrücke eines Ozeandampfers gleicht; als ob das nicht genügte, jagen, zwei Balkonpärchen miteinander verkuppelnd, urplötzlich Säulen die Fassaden hoch; da sind schließlich die Bindeglieder, die Scharniere, die den Kontakt der Flügel mit dem Zentrum stiften und die Symmetrie des Ganzen durch einen wohldosierten Normverstoß teils explizit betonen, teils ironisch brechen – die Säulenreihe links der Mitte, rechts davon eine Art Remise, auf der Steinfiguren wandeln.

Dank dieser Ausnahme von der Regel huscht ein Augenzwinkern durch die Symmetrie, individualisiert sich der Baukörper auf eine nur ihm verfügbare Weise. Alle nachfolgenden Gebäude leben von derselben feinen Ironie, treiben denselben sublimen Spott und beziehen eben daraus ihre Eigenart, ihren Charakter. Konforme Solitäre, die sie allesamt sind, widersprechen sie dem Kasernenton der Straße, die sie zugleich bilden, unterminieren sie deren Majestät, die ihren eigenen Adel erst verbürgt.

Vielleicht geht die Anziehungskraft, die die Stalinallee auf ihre damaligen Bewohner und Besucher ausübte, gerade auf diese vertrackte, selbstwider­sprüchliche Art der Majestätsbeleidigung zurück. Gut möglich, dass sie dem nicht minder verwickelten Verhältnis der Bürger zu den politischen Majestäten symbolische Gestalt verlieh, also ganz anders zu ihnen sprach als zu den neuen Herren. Dass der Arbeiteraufstand vom Juni 1953 just von hier seinen Ausgang nahm, wäre dann weder purer Zufall noch Missverständnis, sondern Freisetzung, Sichtbarmachung der dem Gemäuer inhärenten Spannung. [S. 41-43]

Ebenso ausführlich wie kritisch behandelt der Autor im selben Kapitel dieses »Standardwerk[s] zur Mentalitätsgeschichte der Ostdeutschen« Eisenhüttenstadt nach der Planung von Kurt Walter Leucht.

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About Achim Bahr

Der Künstler, Hochschullehrer, Historiker, Kurator und Autor Achim Bahr ist Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins STALINBAUTEN e.V.