Stalinbauten?

Die Rede von der Stalin- resp. Karl-Marx- und Frankfurter Allee im Berliner Osten ist bis heute von pejorativen Umschreibungen begleitet. Die imposanten Wohnbauten zwischen Strausberger Platz und Proskauer Straße werden verächtlich als Arbeiterpaläste, ihr elegantes neoklassizistisches Design als Zuckerbäckerstil herabgewürdigt und Richard Paulick, einer ihrer maßgeblichen Architekten, als Albert Speer des Ostens diskreditiert. Selbst die als Gag völlig frei erfundene Behauptung, die Straße sei wegen des charakteristischen Keramikschmucks der Gebäude schon zur DDR-Zeit als Stalins Badezimmer verspottet worden, bestand die Plausibilitätsprüfung bei Wikipedia ohne Weiteres – sogar die eigenhändige Löschung des Eintrags durch ihren Urheber wurde rückgängig gemacht – und fand Eingang sowohl in studentische Seminararbeiten als auch in etablierte Medien wie Reiseführer oder Tages- und Wochenzeitungen.

Nationales Aufbauprogramm Berlin, Plakat
Nationales Aufbauprogramm Berlin, Plakat © 1952 Ernst Semmler.

Nationales Aufbauprogramm

Trotz der diffamierenden Attributierungen war die Stalinallee als späte Vervollständigung der Berliner Ost-West-Achse die letzte Verwirklichung eines groß angelegten stadtplanerischen Gesamtkonzepts in Europa, dessen ästhetische Qualitäten mittlerweile unstrittig sind: Die moderate Monumentalität der Architektur und ihre eklektizistischen Stilmerkmale wurden Jahrzehnte später – im Westen – unter dem Begriff der Postmoderne wieder aufgegriffen. Die Wohnungen – ausgestattet mit Fernheizung, Toiletten, Bädern, Aufzügen, Müllschluckern und Gegensprechanlagen – waren zu ihrer Entstehungszeit in der noch weithin zertrümmerten Stadt nicht nur besonders prachtvoll, sondern auch außerordentlich luxuriös. In einer gigantischen Recycling-Aktion buchstäblich auferstanden aus Ruinen, erschienen sie der von den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit erschöpften Bevölkerung als Monumente der Hoffnung und greifbare Vorboten einer besseren Zukunft. 38 Millionen Ziegelsteine, 1.000 Tonnen Stahl, 10.000 Tonnen Schrott und rund 680.000 Kubikmeter Schutt wurden in 4 Millionen Arbeitsstunden von etwa 45.000 freiwilligen Helfer*innen beseitigt resp. gereinigt und zur Wiederverwendung vorbereitet. Nachdem die Pläne von Hans Scharoun zur Wohnzelle Friedrichshain – einer Antizipation der Interbau 1957 im Hansaviertel – als eine Art Gartenstadt verworfen worden waren und stattdessen mit dem Hochhaus an der Weberwiese von Hermann Henselmann – resp. Rolf Göpfert – der ikonische Prototyp für die architektonische Gestaltung gefunden war, entstand in Rekordzeit ein Boulevard von 2,3 Kilometern Länge und 90 Metern Breite, beidseitig gesäumt von jeweils sieben groß dimensionierten Wohnblöcken mit bis zu 12 Stockwerken, zwischen 1952 und 1957 erbaut im Rahmen des »Nationalen Aufbauprogramms Berlin« nach den »16 Grundsätzen des Städtebaus« der DDR von den Architekten (-Kollektiven) Egon Hartmann, Richard Paulick, Hanns Hopp, Karl Souradny, Kurt W. Leucht und Hermann Henselmann.

Frankfurter Tor
Turmbauten von Hermann Henselmann am Frankfurter Tor; Postkarte, Rolf Vetter, Bild und Heimat.

Sozialistischer Klassizismus

Weit sichtbare Wahrzeichen der Allee sind Henselmanns signifikante Turmbauten am Frankfurter Tor – deutliche Reminiszenzen des Deutschen und Französischen Doms von Carl von Gontard am Gendarmenmarkt, die seinerzeit durch Kriegseinwirkungen noch zerstört waren und erst ab Mitte der 70er Jahre wieder aufgebaut wurden. Die explizite Rückbesinnung auf die nationale Bautradition und insbesondere auf deren klassizistische Prägung durch Karl Friedrich Schinkel spiegelt sich in Proportion und Ornamentik der Architektur der Stalinallee, die übrigens seit 1989 unter Denkmalschutz steht: dorische, ionische und korinthische Säulen, italienisch anmutende Kolonnaden, gegliederte Keramikfassaden mit Zitaten antiker Einzelformen, Risalite, Pilaster, Lisenen, Dreiecksgiebel und Architrave, Friese, Palmetten und Akroterien als architektonischer Zierrat sowie detailreicher Mosaik-, Relief- und Figurenschmuck mit sozialistischem Bildprogramm.

Deutsche Sporthalle
Richard Paulick, Portal der Deutschen Sporthalle, 1951-1972 (Flachrelief von Karl Felzmann).

Aufbau und Abriss

Kurz vor dem Pilotprojekt an der Weberwiese wurde nicht nur das Hohenzollernschloss gesprengt, sondern anlässlich der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten auch Richard Paulicks kurzlebige Deutsche Sporthalle errichtet, die aufgrund absehbarer Baumängel bereits 1968 geschlossen und 1972 bedauerlicherweise abgerissen worden ist, obwohl Sanierung und Reparatur möglich gewesen wären. Wie bei dieser übereilten Errichtung führten auch an der Kongresshalle von Hugh Stubbins im Westberliner Tiergarten Korrosionsschäden der Armierungen zur Destabilisierung der Dachkonstruktion, die letztgenannte am 21. Mai 1980 sogar zum Einsturz brachte. An Stelle der Sporthalle und des Stalindenkmals auf der gegenüberliegenden Südseite – mit dessen Demontage am 12. November 1961, drei Monate nach dem Mauerbau, auch der Name der Allee erneut geändert wurde – ist der einheitliche Neoklassizismus nachhaltig von nüchternen Plattenbauten unterbrochen; eine andere Unterbrechung findet sich weiter östlich links und rechts neben Block E-Süd in Gestalt der beiden Laubenganghäuser von Ludmilla Herzenstein, die als Rudimente der ursprünglich projektierten Wohnzelle Friedrichshain nicht in das repräsentative Bebauungskonzept einer groß- und hauptstädtischen Magistrale passten und deshalb mit ebenso schnell wie hoch wachsenden Pappeln kaschiert wurden. Auch das Kino Kosmos von Josef Kaiser markiert eine architektonische Zäsur, die seit 1962 die ursprünglich für einen Kulturbau vorgesehene Lücke zwischen Block E- und F-Nord im deutlich modifizierten Stil des zweiten Bauabschnitts schließt.

Berlin, Karl-Marx-Allee, Stalin-Denkmal
Das Stalindenkmal an der Stalinallee, 1951-1961 (Foto: Bundesarchiv).

Bedeutsame Ereignisse

Mindestens zwei historisch bedeutsame Ereignisse sind zudem mit der Allee verknüpft: Bei Block 40 am sog. Auerdreieck regte sich ein hüben wie drüben ideologisch instrumentalisierter Widerstand, der – durch Propaganda und eingeschleuste Aufrührer forciert – am 17. Juni 1953 eskalierte und dann gewaltsam durch die Sowjetarmee gebrochen wurde. Und am 17. Januar 1988, während der alljährlichen Gedenkveranstaltung anlässlich der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, formierte sich mit deren Slogan »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden« hier auf der Allee eine Protestdemonstration von Bürgerrechtlern und löste damit eine Entwicklung aus, die bald das ganze Land ergriff und das Ende der DDR herbeiführte.

Stalinallee Blick nach Westen
Blick auf Frankfurter Tor nach Westen – vor Errichtung des Fernsehturms; Postkarte, BEBUG/Bild und Heimat, Berlin.

Kulturhistorisches Erbe

Um das bürgerschaftliche Engagement wie auch ein enstprechendes Bewusstsein der Anwohner und Gewerbetreibenden für dieses geschichtsträchtige und einzigartig geglückte architektonische Konglomerat als kulturhistorisch bedeutsames Erbe städtischer Baukultur zu wecken und wach zu halten, wurde am Freitag, den 13. April 2018 der eingetragene gemeinnützige Verein STALINBAUTEN gegründet. Gründungsmitglieder waren Ossis und Wessis, zu seinen Mitgliedern zählen inzwischen Unternehmer, Wissenschaftler, Film­produzenten, Designer, Künstler, Kunsthistoriker und Architekten in resp. aus Deutsch­land, Frankreich, Finnland, Kanada, Russland, Österreich, Norwegen und der Schweiz. Den Dysphemismus der Benennung gleichsam nach außen kehrend, verfolgt der junge Verein als Lobby und Gemeinschaft engagierter und kompetenter Bürger und Bewohner dieses herausragenden Baudenkmals seine Ziele mit Veranstaltungen, Projekten, Publikationen – und natürlich mit sachkundig geführten Alleespaziergängen.

Die Normaluhr auf den Kolonnaden in Block G-Nord wurde zum Signet des Vereins (Logoentwicklung: © Juha Richter).

Bürgerschaftliches Engagement

Neben der Propagierung des Denkmalschutzes und der Motivation interessierter Anwohner und Besucher sind – in Kooperation mit den anderen beteiligten Initiativen – die erneute Welterbe-Nominierung von Karl-Marx-Allee und Interbau 1957 als rivalisierende Konzeptionen widerstreitender Systeme von Städtebau und Weltanschauung in einer einzigen Stadt und die lang schon überfällige Reaktivierung der Ausstellung zur Historie der Stalinbauten im legendären Café Sibylle besonders spannende Aufgaben und vordringliche Anliegen des Vereins. Während das erstgenannte Projekt inzwischen leider abschlägig beschieden wurde, ist das letztgenannte tatsächlich in Bewegung gekommen: die Ausstellung wird von Mitgliedern unseres Vereins neu konzipiert und gestaltet und ab Sommer 2024 – nach mehr als fünf Jahren – endlich wieder zu sehen sein!

STALINBAUTEN

Gerne möchten wir Sie als Mitglied oder Förderer des Vereins gewinnen – engagieren Sie sich, machen Sie mit !

Achim Bahr